„Transitverfahren haben keinen praktischen Mehrwert“

Sechs Fragen an den Asylexperten Dr. Ralph Göbel-Zimmermann, Vizepräsident des Verwaltungsgerichts Wiesbaden

Inmitten des politischen Machtkampfes in Berlin geriet die Sachfrage nach den politischen und rechtlichen Notwendigkeiten einer europäischen Migrations- und Asylpolitik immer mehr in den Hintergrund. Polemische Schlagworte wie „Asyltourismus“ und „Transitzentren“ dominierten die Debatte. Aber was verbirgt sich dahinter und wie sind die Vorschläge des Innenministers Seehofer inhaltlich zu bewerten? Unser Fördermitglied Ralph Göbel-Zimmermann ist ein bundesweit renommierter Asylrechtsexperte und erklärt sachlich die wesentlichen Eckpunkte.

1. Was halten sie von der derzeitigen, von Bundesinnenminister Horst Seehofer angeheizten Asyldebatte?

Nicht nur Laien, sondern auch Asylrechtsexperten und Migrationswissenschaftler reiben sich die Augen angesichts der zahlreichen Worthülsen der Politiker und der gefährlichen Verrohung der Sprache: Ausschiffungsplattformen außerhalb der EU, kontrollierte Aufnahmezentren, Auffangzentren, Hotspots, Ankerzentren, Transitzentren, Transitzonen. Für mich bleiben auch nach dem EU-Gipfeltreffen und dem „Masterplan“ Seehofers mehr Fragen als Antworten.

2. Welche Fragen sind nach ihrer Ansicht nicht beantwortet?

Wie soll es insgesamt mittel- und längerfristig mit dem sog. Gemeinsamen Europäischen Asylsystem, sollte dieses momentan noch den Namen verdienen, weitergehen? Wie soll angesichts des Massensterbens auf dem Mittelmeer künftig die Seenotrettung organisiert werden? Wie soll in den Transit- bzw. Ankunftszentren auch für besonders Schutzbedürftige und Familien die Unterbringung und das Verfahren unter Einhaltung eines fairen, rechtstaatlichen Verfahrens organisiert werden? Wer prüft und wie wird der erforderliche Rechtschutz sichergestellt? Wie kann der grundrechtlich garantierte Richtervorbehalt bei einer Freiheitsentziehung sichergestellt werden?

3. Was sind die bestehenden rechtlichen Grundlagen zur Asylpolitik in Europa?

Grundlage ist zunächst hinsichtlich der Bestimmung der Zuständigkeit des jeweiligen EU-Mitgliedsstaats die sog. Dublin III-Verordnung. Kurz gesagt, derjenige Staat ist zuständig, wo der Flüchtling als erstes europäischen Boden betreten hat, also überwiegend die Mittelmeeranrainerstaaten. Das heißt, gelangen die Flüchtlinge nach Deutschland, müssten diese „Dublin-Fälle“ aus Deutschland zurück in den zuständigen Staat. Es gibt aber Ausnahmen bei der Rückführung: aus familiären Gründen, bei Minderjährigen, bei Überschreitung von Überstellungsfristen und bei einem Selbsteintritt aus humanitären Gründen sowie bei einem systemischen Versagen des Asylsystems in dem zunächst zuständigen Mitgliedstaat. Das Dublin-System ist allerdings momentan, auch wegen der unzumutbaren Belastung z.B. Italiens und Griechenlands und fehlender Übernahme der Verantwortung u.a. durch Ungarn, sowie der verstärkten Sekundärmigration von Flüchtlingen und spontanen Binnenwanderungen nicht mehr funktionstüchtig und sollte deshalb dieses Jahr durch eine reformierte Dublin- IV-Verordnung abgelöst werden. Weitgehend durch europäische Richtlinien vereinheitlicht sind auch die Standards für die Zuerkennung des internationalen Flüchtlingsstatus sowie die Asylverfahrens- und Aufnahmebedingungen.

4. Inwiefern sind Zurücküberweisungen an der Grenze, wie vom Innenminister angedacht, rechtlich möglich?

Nach dem Europäischen Flüchtlingsrecht besteht die Grundregel, dass jeder Antrag eines Schutzsuchenden an der Grenze geprüft werden muss. Danach ist durch Abfrage der gespeicherten Fingerabdrücke in EURODAC zu ermitteln, ob bereits in einem anderen Mitgliedstaat ein Antrag gestellt bzw. ein Verfahren durchgeführt wurde. Danach ist das Überstellungsverfahren einzuleiten. Transitzonen, basierend auf einer „Nichteinreisefiktion“, so wie sie mit der Flughafenregelung bestehen, sind an den Schengen-Binnengrenzen mit dem Schengen-Recht, insbesondere den Grenzkodex, unvereinbar und nach den europäischen Asylregelungen rechtswidrig. Das EU-Recht hat Vorrang vor dem nationalen Recht. Behörden und Gerichte dürfen das nationale Recht nicht anwenden, wenn es gegen EU-Recht verstößt.

5. Was für einen Mehrwert hätte die Einrichtung von „Transitzentren“ an der Grenze zu Österreich?

Eine reine bayuwarische Showveranstaltung und Symbolpolitik. Wie die 1000 zusätzlichen bayrischen Grenzbeamten ohne entsprechend Befugnisse zur Zurückweisung. Es handelte sich bislang an den drei offiziellen Grenzposten zu Österreich, wo Kontrollen durchgeführt wurden, um eine Handvoll Flüchtlinge pro Tag. Die Flüchtlingstrecks vom Herbst 2015 gehören der Vergangenheit an. Ich sehe keinen praktischen Mehrwert eines Transitschnellverfahrens an der Grenze.

6. Inwiefern sind die Maßnahmen geeignet, um Migrationsherausforderung in Europa anzugehen und wie könnte eine humane europäische Migrations- und Asylpolitik rechtlich ausgestaltet sein?

Ich wünsche mir einen sachlichen Diskurs über die solidarische Verantwortungsverteilung unter den EU-Mitgliedstaaten und eine vernünftige Reform des Dublin-Systems. Es steht die gesamte europäische Integration auf dem Spiel, wenn die Frage der Fluchtmigration nicht gelöst wird. Statt der Konzentration auf die Sekundärmigration, Grenzsicherung, Abschottung und Abwälzen der Verantwortung auf ärmere Drittstaaten bedarf es einer, an den Werten der EU und den Menschenrechten orientierten humanen, aber auch kohärenten gemeinsamen Flüchtlingspolitik. Die Flüchtenden müssen nach einem fairen Verteilungsschlüssel unter den EU-Mitgliedstaaten verteilt werden. Flankierend sollten weitere Resettlement-Programme beschlossen und Aufnahmekontingente für die temporäre Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen vereinbart werden. Eine weitere Harmonisierung des Europäischen Asylrechts unter Wahrung der völkerrechtlichen Schutzstandards für Schutzsuchende unter Ausbau einer Europäischen Asylagentur EASO ist unabdingbar. Schließlich muss Europa weiter in die Bedingungen in den Herkunftsländern investieren, damit die Menschen dort eine Lebensperspektive haben. Dabei sollten auch legale Korridore nach Europa für eine Erwerbsmigration eröffnet werden.

Ralph Göbel-Zimmermann, Vizepräsident des Verwaltungsgerichts Wiesbaden