„Gewerkschaften sind ein wichtiger gesellschaftlicher Faktor“

Interview mit Johannes Kiess, Mit-Autor der Studie „Die enthemmte Mitte“

„Die enthemmte Mitte" lautet der Titel der kürzlich in der Reihe der „Mitte-Studien" erschienenen Untersuchung der Universität Leipzig zu autoritären und rechtsextremen Einstellungen in Deutschland. Gefördert wurde die Studie von der Heinrich-Böll-Stiftung, der Rosa-Luxemburg-Stiftung und der Wissenschaftsstiftung der IG Metall – der Otto-Brenner-Stiftung. Allein der Titel deutet daraufhin, dass Hemmschwellen zu sinken scheinen – oder schon weggebrochen sind. Rassismus ist wieder salonfähig. Das ist auch eine Herausforderung für die Gewerkschaften. Die Gelbe Hand hat daher exklusiv mit Johannes Kiess, Sozialwissenschaftler an der Universität Siegen und Mit-Autor der Studie, über steigende Gewaltbereitschaft und soziale Schieflagen in Deutschland gesprochen.

Was sind die zentralen Befunde der aktuellen Studie?

Wir sehen erstmal keinen Anstieg rechtsextremer Einstellungen in Deutschland. Wir befinden uns auf dem Niveau von 2014. Auch die Ausländerfeindlichkeit ist nicht gestiegen. Und das trotz der sogenannten „Flüchtlingskrise". Was wir aber sehen, ist eine steigende Abwertung bestimmter Gruppen wie „Muslime" und „Sinti und Roma". Das heißt, wir haben eine Verschiebung von rechtsextremen Einstellungen hin zu einer nahezu akzeptierten Form der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Ebenfalls erkennen wir eine stärkere politische Polarisierung. Einen Anteil von Menschen mit rechtsextremem Gedankengut gab es auch immer unter den Wählern der Volksparteien, jetzt wandern diese zur AfD ab. Ein weiteres Ergebnis: die Gewaltbereitschaft steigt. Ein Teil der Menschen mit autoritären Denkmustern radikalisiert sich.

Wie erklären Sie sich die Zunahme der rassistisch motivierten Gewalt? Wodurch sinkt die Hemmschwelle? Ist es das allgemeine gesellschaftliche Klima?

Ich würde da auch den politischen Diskurs anführen. Wir wissen, dass auch in den 90er-Jahren, rechte Gewalttäter die allgemeine Stimmung als Motivation angegeben haben, „jetzt auch zu handeln". Wenn es plötzlich eine legitime Meinung ist, gegen „Ausländer" zu sein, fühlen sich manche Menschen befugt, aktiv zu werden. Es ist zwar eine kleine Gruppe, die gewaltbereit ist, aber sie ist relevant – das zeigen die gestiegenen Zahlen rechter Gewalttaten.

Welche Aussagen kann man in Bezug auf die Arbeitswelt treffen? Ist der Betrieb ein Spiegel der Gesellschaft? Oder kommen autoritäre, rassistische und rechtsextreme Einstellungen sogar stärker zum Tragen?

Wir haben in diesem Jahr auch nach der Gewerkschaftsmitgliedschaft gefragt. Im Grunde kann man der These zustimmen: die Mitglieder sind ein Spiegel der Gesellschaft. Es gibt aber eine leichte Erhöhung, übrigens auch unter Kirchenmitgliedern, was autoritäre Einstellungen angeht. Das wir auch unter den arbeitenden und sozial integrierten Befragten diese Einstellungen finden, liegt auch am Wesen der Arbeitswelt, das ist ja kein hierarchiefreier Raum. Und wo Druck herrscht, wo Arbeits- und Leistungsdruck zunehmen, hat das auch Einfluss auf das Vorkommen rechtsextremer Einstellungen. Wir müssen also sozialpolitisch den Druck rausnehmen und auch in der Arbeitswelt noch mehr demokratische Strukturen schaffen.

Das klingt fast wie ein Auftrag an die Gewerkschaften, die seit je her für Mitbestimmung kämpfen. Welche Konsequenzen müssen wir Gewerkschaften für unser Handeln ziehen? Wie können wir rechtsextremen Tendenzen entgegenwirken?

Das stimmt, da sind die Gewerkschaften ein wichtiger gesellschaftlicher Faktor. Denn wir brauchen noch mehr Mitbestimmung und demokratische Teilhabe in der Arbeitswelt. Es muss ein neuer Anlauf getätigt werden, denn wir stagnieren seit Jahren. Die Globalisierung, die Individualisierung sind komplexe, moderne Realitäten, die durch mehr Mitbestimmung im Sinne einer demokratischen „Bildungs"-Institution angegangen werden müssen. Da, wo Mitbestimmung, wo Demokratie funktioniert, gibt es weniger rechtsextreme Einstellungen. Gewerkschaften vertreten eine zutiefst demokratische Haltung, die wir dringend benötigen.

Wie sieht es in der Generationenfrage aus, welche Tendenzen erkennen Sie bei Jugendlichen?Viele wachsen einerseits mit kultureller Vielfalt auf, aber eben andererseits auch mit Unsicherheiten, Globalisierung und Digitalisierung. Wie wirkt sich das aus?

Insgesamt gibt es unter jungen Menschen weniger Ausländerfeindlichkeit, stimmt. Aber das gilt nicht überall. In strukturell schwächeren Regionen, dazu gehören eben die neuen Bundesländer aber nicht nur, ist Vielfalt keine Normalität. Nicht wie in Duisburg oder Frankfurt. Gerade Milieus in Ost wie West, in denen schlechte Bildungs- und Berufsperspektiven herrschen, sind Jugendliche anfällig für rechtsextreme Einstellungen. Das wäre ein Ansatzpunkt für die Bildungsarbeit der Gewerkschaften. Wir dürfen die jungen Menschen in der komplexen Arbeitswelt nicht alleine lassen, man muss sie begleiten, ihr demokratisches Bewusstsein fördern – also klassische Demokratiebildung betreiben. Gewerkschaften können und müssen das leisten.

Die Studie zum Download und weitere Infos gibt es im Netz unter: https://www.otto-brenner-stiftung.de/otto-brenner-stiftung/aktuelles/mitte-studie.html