„Gewerkschaften – Partner für Chancengerechtigkeit“

Exklusiv-Interview mit Staatsministerin Aydan Özoguz, Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und Integration

Vor 60 Jahren wurde das erste Anwerbeabkommen mit Italien geschlossen. Es begann eine gesellschaftliche Entwicklung, die Deutschland bis heute verändert und geprägt hat. Heute sind wir ein vielfältiges, buntes Deutschland. Rückblickend: Was hat unter gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Gesichtspunkten gut geklappt und wo wurden auch Fehler gemacht?

Die Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter haben unsere Geschichte mitgeprägt, nicht nur, weil ihre Nachkommen heute einen beträchtlichen Teil unserer Bevölkerung ausmachen. Unser Wirtschaftswunder haben wir auch ihrer Lebensleistung zu verdanken. Leider wurde das viel zu wenig gewürdigt und anerkannt. Dabei waren die 1950er, 1960er und 1970er Jahre für die Einwanderer eine harte und entbehrungsreiche Zeit. Sie wurden fast ausschließlich für ungelernte Hilfstätigkeiten eingesetzt – egal ob sie vielleicht bereits aus ihrer Heimat eine Berufsausbildung mitbrachten. Sie hatten auch in den Folgejahren kaum die Chance sich weiter zu qualifizieren. Sie waren somit fast automatisch von einer höheren Entlohnung ausgeschlossen.

Sprach- und Integrationskurse gab es damals für die sogenannten „Gastarbeiter" nicht – man ging ja von der irrigen Annahme aus, sie würden alsbald in ihr Herkunftsland zurückkehren. Welche integrationspolitischen Fehler dürfen sich bei der heutigen Flüchtlingsmigration nicht wiederholen? Was hat die Politik gelernt und wo liegen heute die Erfahrungswerte im Umgang mit der Migration und Integration?

Die Politik, aber auch die Gastarbeiter selbst, gingen sehr lange davon aus, dass alle nach ein paar Jahren wieder in ihre Heimat zurückkehren. Diese Rechnung ist, wie wir alle wissen, nicht aufgegangen. Viele Menschen sind nicht wieder zurückgegangen, sondern haben ihre Familien nachgeholt oder neue Familien in Deutschland gegründet. Integrationskonzepte gab es dennoch keine. Es ist eines der größten Versäumnisse der Nachkriegsgeschichte, dass wir damals weder auf Sprachkurse, Migrationsberatung noch auf eine vorausschauende Integrationspolitik gesetzt haben. Inzwischen wissen wir: Wir müssen die Menschen, die bei uns leben, in unsere Gesellschaft einbinden, Sprache ist da ein Schlüssel zur Integration. Erst 2005, sozusagen mit 50 Jahren Verspätung nach dem ersten Anwerbeabkommen, haben wir endlich die Sprach- und Integrationskurse eingeführt. Schnell ist was anderes.

Arbeit ist sicherlich ein Grundpfeiler der Integration. Die „Gastarbeiter" hatten damals zumindest schon einen Arbeitsvertrag im Gepäck. Wie kann heute die Integration der vielen jungen Flüchtlinge in den Arbeitsmarkt gestaltet werden? Gerade auch in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften?

Wir haben 2014 und 2015 viele Gesetze auf den Weg gebracht, um Flüchtlingen den Zugang zum Arbeitsmarkt zu erleichtern. Das betrifft die Wartefristen für die Arbeitsaufnahme aber auch bei der Aufnahme einer Ausbildung. Es nützt ja niemandem, wenn Flüchtlinge sinnlos in den Unterkünften warten müssen. Deshalb haben wir für Asylbewerber, die bei uns bleiben werden, viele Förderungen zur Integration in den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt geöffnet. Wir dürfen einfach nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen: Ich setze mich dafür ein, dass Flüchtlinge nicht nur schnell einen Deutschkurs machen können, sondern auch Maßnahmen zum Arbeitsmarkteinstieg schon parallel beginnen können– und nicht wie bisher hintereinander. Da geht sonst zu viel wertvolle Zeit verloren. Für die qualifizierten Zuwanderer müssen wir einen zügigen Berufseinstieg über die schnelle und unbürokratische Anerkennung von Qualifikationen ermöglichen. Junge Flüchtlinge sollen angepasste Einstiegsprogramme in die berufliche Ausbildung und einen einfachen Zugang über Arbeitsgelegenheiten erhalten. Ich bin den Gewerkschaften für ihre Unterstützung bei all diesen Maßnahmen sehr dankbar. Sie waren übrigens die ersten in Deutschland, die sich für die Integration der Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen damals eingesetzt haben. Für mich sind sie auch heute ein unverzichtbarer Partner, um mehr Chancengerechtigkeit und Teilhabe zu schaffen.

Neben großen Gesten der Willkommenskultur und Hilfsbereitschaft auf der einen nehmen auf der anderen Seite auch rassistisch motivierte und rechtsextreme Gewalttaten gegen Flüchtlinge zu. Wie können wir als Gesellschaft und wie kann die Politik effektiv gegen Rassismus, Rechtspopulismus und Rechtsextremismus vorgehen?

Die Welle der Gewalt gegen Flüchtlinge und Menschen, die sich für sie einsetzen, ist alarmierend. Die Rhetorik wird immer aggressiver, nicht nur von Pegida. Auch die AfD zündelt eifrig mit und trägt zu einer Verrohung der Debatte bei. Wer hetzt und andere Menschen bedroht oder angreift, muss die ganze Härte unseres Rechtstaats spüren. Zugleich dürfen wir nicht nachlassen, wenn es darum geht, über den Zuzug von Flüchtlingen aufzuklären, Vorurteile zu bekämpfen und auch viele Begegnungen mit Flüchtlingen zu schaffen. Es sind gerade die direkten Begegnungen, die Ängste abbauen und mehr Verständnis füreinander schaffen.

Das Interview fand im Rahmen des Festaktes "60 Jahre Gastarbeiter in Deutschland" statt (siehe S.1). Mehr Impressionen dazu unter: http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2015/12/2015-12-07-60-jahre-gastarbeiter.html