„Europa braucht jetzt Visionen“

Interview mit Dr. Ralph Göbel-Zimmermann

Seit Jahren ertrinken Menschen vor den Küsten Europas bei der gefährlichen, von kriminellen Schleppern organisierten Überfahrt in ein vermeintlich neues, besseres Leben. Ende April erst starben über tausend Flüchtlinge im Mittelmeer zwischen Libyen und Lampedusa, der italienischen Insel, die mittlerweile zum Sinnbild des Dramas geworden ist. Der DGB forderte daher ein Seenotrettungsprogramm und legale Einwanderungswege, um diese humanitären Katastrophen künftig zu verhindern. Die EU und die nationalen Regierungen äußern nach jeder Tragödie ihre Betroffenheit, allein es scheint grundsätzlich keine Einigkeit in Europa darüber zu bestehen, wie man die Migrations- und Asylpolitik gemeinschaftlich gestalten soll. Gelbe-Hand-Redakteur Marco Jelic hat mit dem Fördermitglied und Asylrechtsexperten, Dr. Ralph Göbel-Zimmermann (Vorsitzender Richter am Verwaltungsgericht Wiesbaden) gesprochen – über Verantwortung, Solidarität und Visionen in Europa.

Die Asylpolitik in Europa ist grundsätzlich über die Dublin-Verordnungen geregelt, die besagen, dass der Flüchtling dort Asyl suchen muss, wo er das erste Mal europäischen Boden betritt. Was genau klappt an diesem System nicht?

Dublin ist offensichtlich gescheitert. Denn die Verantwortungsverteilung funktioniert nicht. Dublin ist auf Abwehr ausgerichtet und wälzt so die Verantwortung auf die Erstaufnahmeländer, zumeist die Anrainerstaaten im Süden, ab. Was dann passiert, ist, dass die Flüchtlinge in andere Staaten weiterziehen und so die Problematik der Rückführung besteht, die ebenfalls nicht funktioniert. Im Endeffekt kommt es zu einem Hin- und Hergeschiebe, und was auf der Strecke bleibt, ist der Schutz der Flüchtling – das kann nicht sein.

Welche Änderungen und Maßnahmen müssen langfristig her, um die Migrations- und Asylpolitik innerhalb der Europäischen Union neu auszurichten?

Dublin ist ein System der reinen Zuständigkeitsbestimmung, wir brauchen ein System, das den Schutz der Flüchtlinge gewährleistet. Dafür müssten in jedem Staat der EU aber auch gleiche und faire Aufnahmeverfahren und Asylbedingungen vorherrschen. Das ist gerade in den ärmeren Staaten momentan aber nicht der Fall und motiviert natürlich die Flüchtlinge nach besseren Standards in anderen Ländern zu suchen. Was wir also brauchen, ist eine faire und solidarische Verteilung der Flüchtlinge nach einem Quotensystem mit vernünftigen Kriterien.

Wie können diese Kriterien aussehen?

Das kann ein Verteilungsschlüssel sein, ähnlich wie der Königsteiner-Schlüssel, den wir in Deutschland bei der Verteilung der Flüchtlinge auf die Bundesländer anwenden. Man könnte als Kriterien für die Quote in Europa die Bevölkerungszahl, die Wirtschaftskraft gemessen am BIP, aber auch eine Art „Armutsfaktor“, die Arbeitslosigkeit in einem Land, miteinfließen lassen. Nochmal: Dafür müssen in allen Ländern die gleichen Asylbedingungen gelten. Die Staaten, die das momentan nicht leisten können, müssen unterstützt werden. Ein Europäischer Flüchtlingsfonds zum Aufbau der Infrastruktur in den jeweiligen Ländern wäre zum Beispiel denkbar. Langfristig der große Wurf, ja geradezu visionär, wäre eine europäische Asylbehörde, die die Harmonisierung der Bedingungen steuert. Wichtig ist, dass die Länder gegenseitig füreinander einstehen, und sich nicht der Verantwortung entziehen und andere Staaten alleine lassen. Wir sind eine Solidargemeinschaft.

Solidarität ist einer der Grundwerte, auf der die europäische Staatengemeinschaft fußt. Doch gerade beim Thema „Asyl“ kommt Europa seiner moralischen Pflicht nicht nach, da jeder Staat, so scheint es, seine eigenen Interessen vertritt. Wie soll man so eine weitreichende Reform durchsetzen?

Es muss ein grundlegender Wandel her. Europa braucht jetzt Visionen, über die man auch tabufrei sprechen muss. Alle Optionen müssen jetzt auf den Tisch. Kurzfristig sind eine gemeinsam organisierte Seenotrettung und legale Zuwanderungskorridore definitiv notwendig, um Druck aus dem Kessel zu nehmen. Aber das alleine reicht nicht. Die Menschen, die zu uns kommen, brauchen doch auch vernünftige Zuwanderungsperspektiven, eine sozial verantwortliche Zuwanderungspolitik. Das bedeutet auch, legale Arbeits- und Bildungsmigration zu ermöglichen. Jugendliche Flüchtlinge hängen hier in Deutschland oft jahrelang in der Warteschleife ihres Asylverfahrens. Warum sollen diese Jugendlichen keine Lehre machen und dann hier arbeiten und bleiben dürfen? Das können wir uns ja schon aus wirtschaftlichen Gründen nicht erlauben, geschweige denn aus moralischen oder sozialen.